< zurück   < back
exil.arte gewinnt Bank Austria Kunstpreis International 2010:
Laudatio, Thomas Angyan, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien



Sehr geehrter Herr Vorstandsvorsitzender,
sehr geehrte Mit-Jurorinnen und -Juroren,
sehr geehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir, Sie mit einer kleinen Geschichte gedanklich aus diesem Saal und der inspirierenden Festlichkeit dieses Abends herauszuführen und auf eine Reise mitzunehmen: eine Reise zurück in die Vergangenheit, eine Reise hinüber ins Nachbarland Tschechien, ins Prag des Jahres 1901. Dort empfängt Antonín Dvorák, der weltberühmte Komponist, bei sich daheim einen kleinen Buben und seine Mutter. Der Besuch ist ihm lästig, das ist ihm deutlich anzumerken. Aber Dvorák ist ein höflicher Mensch – und die Frau lässt sich nicht so leicht abwimmeln, also gibt er nach und erfüllt ihre Bitte. Der Bub sitze ganze Tage hindurch am Klavier, so erzählt die Frau, und sie als seine Mutter müsse wissen, was es damit auf sich habe und wie es um die Musikalität des Burschen bestellt sei. Dvorák bittet den Siebenjährigen, sich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, setzt sich ans Klavier und schlägt eine Taste an. Der Kleine kann den Ton bestimmen. Auch eine ganze Melodie bringt ihn nicht in Verlegenheit, und als Dvorák die Aufgaben immer schwieriger macht und zwei Stimmen zugleich und volle Akkorde spielt, ist der Junge auf seinem Posten und weiß alle Töne einzeln zu benennen. Dvorák erhebt sich vom Klavier, dreht den Jungen mit sanfter Hand von der Wand weg, betrachtet ihn mit lange prüfendem Blick – und schweigt. Dann geht er zu seinem Arbeitstisch, öffnet eine Lade und holt zwei Tafeln Schokolade heraus. „Da nimm!“, sagt der große Meister. Und der Kleine weiß, dass er in diesem Augenblick unendlich viel mehr bekommen hat. „So“, sagte er später selbst einmal über diesen denkwürdigen Augenblick, „so promovierte mich Dvorák zum Musiker.“

Und so, meine sehr geehrten Damen und Herren, begann die Laufbahn des in Prag geborenen Komponisten Erwin Schulhoff. Die Verheißung, die Dvorák mit seinen zwei Tafeln Schokolade ausgesprochen hatte, erfüllte sich. Schulhoff studierte schon als Zehnjähriger am Prager Konservatorium und brillierte, egal wohin er im Zuge seiner Ausbildung kam: sei es in Wien, Leipzig oder Köln. Nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs, der ihn als Soldat der österreichischen Armee zum Fronteinsatz gezwungen hatte, avancierte Schulhoff zu einem der wichtigsten Exponenten der Neuen-Musik-Szene in Deutschland, ja in Europa: einem Komponisten, der die „goldenen Zwanzigerjahre“ mit sprühender Kreativität und faszinierenden Brückenschlägen zwischen Jazz und Klassik bereicherte.

1942 starb Erwin Schulhoff im Internierungslager Wülzburg in Bayern an Tuberkolose: einen Tod, so grässlich und anonym, wie er dort, an diesem Schreckensort des Nazi-Terrors, an der Tagesordnung war. Wer starb – an Krankheit, Schwäche, Auszehrung –, dessen Leichnam wurde in jenen Matratzensack gesteckt, auf dem er zuvor gelegen hatte. Ein Karren schaffte ihn fort, ein „Begräbniskommando“ warf ihn in eine Grube: ohne Segen, ohne Namen, ohne Zeichen des Gedenkens. So ging auch das Leben von Erwin Schulhoff zu Ende.

Der Bank Austria Kunstpreis 2010, meine Damen und Herren, ehrt eine Organisation, die sich in vorbildlicher Weise dafür einsetzt, dass wir diese Geschichten nicht vergessen – eine Organisation, die uns die Möglichkeit gibt, jene Zeichen des Gedenkens zu setzen, die einem Menschen wie Erwin Schulhoff in seiner gewaltsam herbeigeführten letzten Stunde so brutal versagt wurde. Der Verein „exil.arte“ lässt verstummte Stimmen wieder sprechen und bringt gewaltsam zum Verstummen Gebrachtes wieder an unser Ohr – und damit auch an unser Herz. Das erklärte Ziel von „exil.arte“ ist es, „die Vielfalt des kulturellen Erbes der Vertriebenen und Verfemten aufzuzeigen und mittels Konzerten, Symposien und wissenschaftlichen Publikationen zu fördern“. Dazu braucht es nicht nur Leidenschaft und Engagement, sondern auch enorm viel Wissen: Qualitäten, die diesen Verein und seinen Spiritus rector, Universitätsprofessor Dr. Gerold Gruber, in besonderer Weise auszeichnen.
Mit der Verleihung des Bank Austria Kunstpreises in der Kategorie „International“ wird nicht nur die vorbildliche Arbeit dieses seit knapp fünf Jahren bestehenden Vereins gewürdigt, sondern ganz konkret auch eines seiner Projekte unterstützt: ein Projekt, das dem Werk Erwin Schulhoffs gilt.

Rund eineinhalb Jahre ist es her, dass „exil.arte“ unter dem Titel „Verstummte Stimmen – Geächtete Musik“ eine Konzertreihe in Brünn, Wien, Prag und Olmütz veranstaltete, bei der Erwin Schulhoffs Konzert für Flöte, Klavier und Kammerorchester im Mittelpunkt stand. Das Werk selbst, das Schulhoff 1927 nach einem inspirierenden Paris-Aufenthalt für den französischen Flötisten René Le Roy geschrieben hatte, fand großen Anklang bei dieser Wiederaufführung, die Konzertreihe wurde sogar mit dem „Golden Stars Award“ der Europäischen Kommission ausgezeichnet. Allein: Funkelnde Sterne sind manchmal zu wenig, wenn es an klingender Münze fehlt. Der „Golden Stars Award“ war nicht mit einem Geldpreis verbunden;
Eine Fortsetzung der Konzertreihe, die für 2010 geplant war, konnte aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt werden. – Musiknoten brauchen nun einmal Banknoten! Und Geld wird auch benötigt, um dem Werk, Schulhoffs fantastischem Doppelkonzert, eine weitere Verbreitung zu sichern: durch eine CD-Einspielung, die von „exil.arte“ ebenso geplant ist wie die Herstellung von Notenmaterial, das in moderner, textkritischer Edition erstmals auf den Markt gebracht werden soll. Mit der Verleihung des Bank Austria Kunstpreises an „exil.arte“ wollen wir Ihnen, verehrter Professor Gruber, genau dies ermöglichen. Wir wissen, dass es einer ganzen Fülle von Mitteln bedarf, – künstlerischer, wissenschaftlicher, aber eben auch finanzieller –, um die „Verstummten Stimmen“ eines Erwin Schulhoff und vieler anderer wieder zum Klingen und zum Sprechen zu bringen.

Diese Stimmen wieder zu hören tut uns gut – und tut uns not. In unseren Konzertprogrammen schließen sie Lücken – war das 20. Jahrhundert in der Musik doch, wie sich nun zeigt, wesentlich vielfältiger, bunter, spannender, als wir das lange wahrhaben wollten. Gleichwohl gibt es Lücken, die nie zu schließen sind:
Das, meine Damen und Herren, sind die tiefen menschlichen Dimension, die hinter dem Engagement von „exil.arte“ stehen: dass wir hinter der Musikgeschichte die Geschichte einzelner Menschen erfahren und erfassen, dass wir uns ergreifen lassen von der Lebensgeschichte eines Erwin Schulhoff – einem Leben, dass so hoffnungsvoll und buchstäblich süß unter Dvoráks Obhut begann und mit so unsäglicher Barbarei zertreten wurde.
Dass wir aus der Geschichte lernen, lässt sich hoffen. Um diese Hoffnung zu nähren aber braucht es Menschen und Organisationen, die diese Geschichten so kundig und wissend ans Licht zu heben verstehen wie „exil.arte“.

Die Jury hat sich entschieden, „exil.arte“ den Bank Austria Kunstpreis in der Kategorie „International“ zu verleihen. Damit bringen wir zum Ausdruck, dass wir in diesem österreichischen Projekt eine Initiative von großer internationaler Tragweite sehen. Zugleich würdigen wir ein Engagement, das uns allen wie kaum ein anderes vor Augen führen kann, wie wichtig, ja lebensnotwendig ein Denken in internationalen Dimensionen ist. Die Geschichte eines Erwin Schulhoff lässt uns gewahr werden, dass Ächtung, Verfemung und todbringende Verfolgung nicht zuletzt damit beginnen, dass sich so genannte Hüter nationaler Werte hochmütig einem Denken in internationalen Kategorien verschließen. Sie maßen sich an, zu normieren und zu sortieren, einzuengen und auszugrenzen. Wo aber Kunstwerke auf den Index gesetzt werden – wir wissen es –, da werden bald auch Künstler verfolgt, und wo Bücher brennen, sind die Scheiterhaufen für Menschen nicht weit …

Internationalität, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine Grundbedingung des Lebens wie der Kunst. „exil.arte“ hält das Bewusstsein dafür in beispielgebender Weise aufrecht. Wir danken Ihnen auch dafür und gratulieren Ihnen aufs herzlichste zum Bank Austria Kunstpreis International.

< zurück   < back

schließen | close
exil.arte news